In meiner Arbeit als Paar-, Einzeltherapeutin und Mediatorin habe ich täglich mit Konflikten zu tun und auch bereits öfter darüber geschrieben.
Meine Klienten bringen Konfliktthemen aller Art in den Therapieraum: seien es Konflikte über die Lebensgestaltung mit dem Partner (zusammenziehen oder nicht, unterschiedliche Lebensstile, unterschiedliche Werte), Konflikte über Treue und Untreue, Eifersucht und unterschiedliche Bindungsstile; Konflikte mit Freunden, denen man glaubt, mehr zu geben als zu bekommen, Konflikte mit Eltern/Kindern/Kollegen/Vorgesetzten und nicht zuletzt Konflikte mit uns selbst, Kämpfe mit unserem guten oder schlechten Gewissen, unseren unendlichen To-do-Listen, Prioritäten und der Diskrepanz zwischen unserem Soll-Ich, Bin–Ich und Wunsch-Ich.
Eine Klientin rief mich vor einigen Tagen an, entsetzt darüber, eine WhatsApp Konversation des Partners mit einer Kollegin „entdeckt“ zu haben. Ein gigantisches Kopfkino über Betrug, Seitensprung, Affäre, Trennungsszenarien spielte sich in ihrem Kopf ab, psychosomatische Beschwerden machten ihr zu schaffen und die unglaubliche Angst, den Partner damit zu konfrontieren.
Ich ermutigte sie, das Gespräch zu suchen, vor allem den Mut aufzubringen, zu gestehen, seine Privatsphäre verletzt zu haben und auch die dahinterliegenden Gefühle offen zu legen: Angst, ihn zu verlieren.
Im Gespräch konnten die beiden den harmlosen Vorgang klären und den jeweiligen Emotionen von Angst, Scham und Schuldgefühlen Raum geben.
Wenn wir uns öffnen, uns zeigen, uns weich machen, öffnen wir den Raum für echte Verbundenheit, für Nähe und für Verständnis, trotz des Risikos verletzt zu werden.
Ist es tatsächlich so einfach Konflikte zu lösen?
Jein.
Ich kenne aus meiner Praxis alle Arten von Konflikt und Streit, von Anspannung, Explosion, Eiseskälte, Wut, Tränen, Trennungen und Scheidungen, Versöhnung. Aber während es keine magische Formel für Heilung gibt, kennen wir doch alle den Unterschied zwischen produktiven nützlichen Konflikten, die heilend sind, und den Konflikten, die schlicht destruktiv, nutzlos und schmerzhaft sind.
Überall heutzutage scheint es, dass die Menschen größere Schwierigkeiten haben, diesen Unterschied auch für sich selbst zu finden.
Ich höre viel häufiger als früher von Situationen, in denen Menschen, unfähig ihren Emotionen, ihrer Trauer, ihrer Angst Worte zu geben, durch kleine Risse in Beziehungen riesengroße Scherbenhaufen entstehen lassen, die ihr Gegenüber ratlos zurücklässt.
Beide bleiben sprachlos: wie konnte ein kleines Missverständnis oder Meinungsverschiedenheit zu einem kompletten Bruch führen?
Und dies passiert nicht nur in ganz engen Beziehungen. Das geschieht auch zum Beispiel beim daten, wo Menschen jemanden treffen und Dinge feststellen, die sie nicht mögen. Anstatt es anzusprechen, verschwinden sie einfach im Nichts: das moderne Phänomen des „Ghostings“, das den anderen immer sprachlos und verletzt zurücklässt, ist nichts anderes als Konfliktvermeidung.
Was ist geschehen? Woher kommt diese Konfliktvermeidungstendenz?
Ist es eine Art emotionale Atrophie durch die Pandemie? Ist es mit einer zunehmenden Polarisierung in unserer Gesellschaft verbunden? Ist es unsere zu technologische Gesellschaft, die uns zu verrohten ignoranten, einer Art Chat-GPT- oder Social Media-Dummies werden lässt, unfähig uns einfach auf unser menschliches Bauchgefühl, auf unseren Instinkt zu verlassen und die grundlegenden Regeln eines respektvollen Miteinanders vergessen lässt? Haben wir Angst, die Gefühle der anderen zu verletzen? Haben wir Angst, von der Wahrheit des anderen so sehr verletzt zu werden, dass wir es nicht aushalten können? Haben wir Angst davor, was in einem Gespräch passieren könnte, wenn wir etwas sagen, was wir danach nicht mehr zurücknehmen können?
Ich werde im November an meinem jährlichen Workshop mit Esther Perel teilnehmen, in dem wir uns in einer großen Gruppe von Therapeuten aus der ganzen Welt über das Konfliktverhalten, das wir in unseren Praxen in den letzten Jahren beobachtet haben, austauschen und gemeinsam Ideen und Lösungen erarbeiten werden.
Aber eines weiß ich bereits jetzt: wir können Konflikt in Verbundenheit umwandeln!
Was braucht es dazu? Es braucht Empathie. Es braucht Vorsicht, Behutsamkeit und die Bereitschaft, uns neue Kommunikationsinstrumente zuzulegen.
Konflikt gehört zu allen Beziehungen.
Meinungsverschiedenheiten, Streit, unterschiedliche Standpunkte bedeuten nicht, dass die Beziehung schlecht ist und auch nicht, dass sie es nicht wert ist, weiter gelebt zu werden. Oft ist Konflikt ein Alarmzeichen. Unsere Beziehungen brauchen Achtsamkeit. Unsere Beziehungen brauchen Offenheit. Unsere Beziehungen erfordern Mut.
Habt den Mut, Eure Emotionen und Gefühle zu adressieren; habt den Mut, Euren Partnern und Mitmenschen zu sagen, was Euch bewegt, sorgt, ängstigt, ärgert oder irritiert.
Eins ist dabei wichtig: begegnet Eurem Gegenüber mit Freundlichkeit und Respekt, auch im Auftakt eines Konfliktgespräches.
Im November werde ich über die Ergebnisse des Konflikt-Workshops mit Esther Perel und den vielen anderen Kollegen aus der ganzen Welt berichten.
Bis dahin, habt eine achtsame, „konfliktlebendige“ Zeit!