(Und die dahinter lauernden Gefahren)
Ich schreibe diesen Newsletter, während ich in Italien auf der Terrasse meines Elternhauses sitze, unter einer dichtgewachsenen Glyzinienlaube, umgeben von uralten Zypressen, dem Duft von Rosmarin, Salbei und Thymian in der Nase und blicke auf den tiefblauen Gardasee.
Ich höre Vögel zwitschern, die ersten Zikaden und Grillen zirpen, die Blätter rascheln im Wind.
Sonst nichts.
Ich sitze schon seit 3 Stunden hier. Ich schaue, ich rieche, ich lausche, ich fühle, ich schwebe fast.
Nur das.
Die ersten drei Tage ging das überhaupt nicht, andauernd sprang ich auf, schaute auf mein Telefon, das Gedankenkarussell ratterte, es war fast anstrengend.
Aber jetzt stellt sich ein unglaublicher Frieden ein. Eine Ruhe. Eine Freude, so ein tiefes Glück, ein pures Glück am Sein.
Wann habt Ihr das letzte Mal innegehalten? So richtig bewusst. Alles abgeschaltet, unerreichbar, das Mobiltelefon irgendwo vergessen, die Welt buchstäblich ausgesperrt? Wie war das?
Das Innehalten kann wunderschön sein, wie eine tiefe Meditation, eine Traumreise, eine Hypnose, ein Flow.
Glück, Präsenz, „mindfulness“ wie es im Englischen so schön heißt, oder ich würde es auch „bodyfulness“ oder „emotionfulness“ nennen: alles darf sein, ich nehme alles an, was kommt.
Und genau darin lauert auch die Gefahr. Nämlich die der ungebetenen Gäste. Plötzlich meldet sich ein innerer Anteil, den wir so gar nicht auf der Liste hatten, vielleicht ein wütendes Kind oder ein trauriges. Oder was Depressives, Ängstliches, Schamvolles, Unruhiges.
Was ist, wenn wir an einem wunderschönen Ort sitzen, ein paar Tage Urlaub haben, uns extra die Zeit frei geschaufelt haben und jetzt soll aber Bitteschön die Entspannung eintreten, das Glück, die Ruhe, das Einssein mit der Natur und nichts davon passiert? Wie jetzt? Ich hab’ ein Haufen Geld dafür ausgegeben, um an diesem Ort zu sein und plötzlich fühlt es sich richtig schlecht an? Wer ist schuld? Wie kann es sein, dass ich es noch nicht mal hier und jetzt hinbekomme, mich zu entspannen? Es sind doch alle Voraussetzungen da!
Tja….wer sagt das denn? Wir haben immer ein Bild davon, wie alles sein soll. Eine Vorstellung davon, wie wir selbst zu sein haben, was passieren soll, wenn wir alles für unsere Selbstoptimierung tun, wenn wir ganz viel Therapie machen, wenn wir ganz viel meditieren, wenn wir uns ganz gesund ernähren, wenn wir ganz viele kluge Bücher lesen, aber was ist dann, wenn die versprochene Heilung nicht eintritt, wenn die Versöhnung mit uns selbst nicht funktioniert, wenn wir uns gar nicht eins fühlen mit der Natur und schon gar nicht friedlich im Hier und Jetzt?
Was machen wir dann bloß?
Können wir zum Beispiel annehmen, dass ein depressiver Anteil in uns eine wichtige Funktion erfüllt, eine wichtige Bedeutung in unserem Leben hat und einfach die Erlaubnis bekommen darf, zu bleiben?
Ich habe heute in dem wundervollen Podcast Gefühls Echt mit Maria Sanchez den Begriff „Landeplatz“ gehört. Der Landeplatz für Emotionen, für Symptome, für Empfindungen, die wir eigentlich nicht haben wollen. Und dann stellt sich die Frage, dürfen sie da sein, dürfen sie bleiben? Haben sie eine Daseinsberechtigung oder werden Sie möglicherweise nur geduldet, für eine Weile, und wenn ja, bis wann? Wie können wir diese Landeplätze schaffen für all unsere Emotionen? Wie können wir annehmen, dass alles zu uns gehört, dass alles zugehörig ist, dass alles sein darf, dass wir ganz sind so wie wir sind?
Für mich geht das, indem ich ab und zu innehalte und fühle: mich, die Umgebung, die Welt, mich selbst in dieser Welt. Auch mit Scham und mit Schuld. Dann fühle ich mich ganz. Das hat lange Jahre gebraucht, aber jetzt kann ich auch meine Scham und meine Schuld annehmen, ohne sie weg machen zu wollen oder zu müssen. Sie gehören einfach dazu.