Habt Ihr auch schon mal darüber nachgedacht aus Frust, Wut und letztendlich Protest, irgendeine Affektentscheidung zu treffen?
Ich bin so wütend, dass ich mich von dir trenne ….
Ich bin so frustriert, dass ich den Job hinschmeiße …
Ich bin so enttäuscht, dass ich meine Wahlstimme einer umstrittenen Partei gebe …
Wer hat nicht schon mal mit solchen Gedanken gespielt?
Dahinter steckt die Überzeugung, dass Menschen sich durch ihnen entgegengehaltene Vorwürfe „bessern“, also mehr vom erwünschten Verhalten zeigen. Dazu hat der bekannte deutsche Psychotherapeut und Paartherapeut Wolfgang Schmidbauer kürzlich einen interessanten Beitrag veröffentlicht. Es ging darum, dass viele Menschen in Deutschland die AfD aus Enttäuschung und Wut wählen. Dennoch drücken ihre Vorwürfe eine Anspruchshaltung aus, die niemals konstruktiv sein kann. Und hier gibt es viele Parallelen zu der Arbeit mit Paaren.
In Paartherapie kommen Paare in der Regel, wenn sie ziemlich unzufrieden sind. Fast immer sagen sie mir im ersten Gespräch, sie hätten Kommunikationsprobleme. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich diese Kommunikationsprobleme dann als gegenseitige Vorwürfe und bei noch genauerem Hinsehen stelle ich dann fest, dass hinter diesen ganzen Vorwürfen meist unerfüllte Bedürfnisse stehen.
Nun sind aber Vorwürfe nie zielführend. Im Gegenteil: sie verstärken das Problem, das sie eigentlich lösen sollen.
Wenn in der Paartherapie zum Beispiel der Vorwurf ausgesprochen wird, dass der Partner viel zu viel arbeitet und zu wenig Zeit für die Familie hat, dann wird er, wenn ihm dieser Vorwurf entgegengehalten wird, noch mehr arbeiten, weil er bei der Arbeit Erfolgserlebnisse hat, während ihm zu Hause seine Unzulänglichkeiten vorgehalten werden. Und dies meist ohne dass hinterfragt wird, warum er denn so viel arbeitet (weil unsere Familie das Geld braucht, weil ich eine so große Verantwortung trage, weil es in unserer Firma kriselt, weil es mir Spaß macht und mich erfüllt…). Wenn wir unserem Kind vorwerfen, dass das Nachbarskind bessere Noten erzielt, dann werden die Noten unseres Kindes aus Protest, aus Wut, aus Frust, aus Hilflosigkeit noch schlechter.
Ein Vorwurf ist fast ein Instinkt in uns. Wenn wir enttäuscht sind, kontern wir mit einem Vorwurf: unsere Erwartungen wurden enttäuscht und damit fühlen wir uns automatisch im Recht. Wir klagen einen Anspruch ein. Wir glauben, dass unsere Haltung die richtige ist und selbst, wenn wir wissen, dass der Vorwurf zum Scheitern verurteilt ist, weil das Gegenüber dann in eine bockige Verweigerung tritt, vermeiden wir es trotzdem nicht, Vorwürfe auszusprechen.
Wie kann es uns gelingen, den Ärger den wir empfinden zu reflektieren und zu überlegen, was wir selbst tun könnten, um die Situation zu verbessern? Es ist doch viel leichter, in der Opferrolle zu verharren, oder? Vorwürfe sind absolut resistent gegen kritische Einwände und sogar gegenüber der Einsicht über den angerichteten Schaden. Im Vorwurf reagieren wir auf primitive Seelenzustände, sagt Wolfgang Schmidbauer, und deshalb sind sie dem bewussten Erleben kaum zugänglich.
In der sprachlosen Kindheit erfüllt eine Bezugsperson tatsächlich unsere Wünsche, wenn wir nur laut genug protestieren. Das Baby schreit, wenn es Durst, eine Kolik oder eine nasse Windel hat und damals wurde unser Zustand tatsächlich gebessert, wenn wir unser Missfallen ausdrückten.
Aber warum ist das jetzt als Erwachsener nicht mehr so?
Wir gehen doch oft immer noch an Situationen heran mit folgender Vorstellung: wenn ich X eifersüchtig mache, in dem ich mit Y flirte, dann wird sich X mehr um mich bemühen.
Wir glauben tatsächlich, dass wir einen Anspruch auf ein unsere Bedürfnisse befriedigendes Wesen haben und wir glauben sogar, dass wir es finden werden, indem wir Frust, Wut und Unzufriedenheit schonungslos ausdrücken. Das befeuert zum Beispiel die Dynamik von Protestparteien und das befeuert auch Krisen in Beziehungen, die sich leider als Einbahnstraße erweisen.
Im Vorwurf entwerte ich den anderen. Aber wenn ich das oder den, der mir nahesteht, entwerte, entwertete ich mich selbst.
Wenn uns wirklich an einer Verbesserung gelegen ist, dann sollten wir uns nicht am gegenüber orientieren, sondern unser eigenes Verhalten reflektieren, unsere eigenen Erwartungen, unsere eigenen Bedürfnisse und uns die Frage stellen: „Wer ist jetzt, wo ich kein Baby mehr bin, für die Befriedigung meiner Bedürfnisse zuständig?“. Die Antwort kann immer nur lauten: „Ich selbst“.
Ich freue mich auf Eure Gedanken zu diesem Thema.
Und ja, ich neige dazu, Petrus Vorwürfe wegen des schlechten Wetters in Norddeutschland zu machen….mein Antidot ist dann: ab nach Italien!