„Wir alle brauchen jemanden, der uns ansieht.
Je nachdem, unter welcher Art von Blick wir leben möchten, unterteilen wir Menschen uns in vier Kategorien.
Die erste Kategorie wünscht den Blick zahlreicher anonymer Augen, also den Blick, die Augen eines Publikums.
Die zweite Kategorie sind die Menschen, die die vielen Blicke ihnen bekannter Menschen brauchen.
Die dritte Kategorie sind die, die vor ihnen den Blick und die Augen des Geliebten brauchen.
Und dann gibt es noch eine vierte Kategorie, die seltenste, derer die unter dem imaginären Blick abwesender Menschen leben. Das sind die Träumer“.
– Milan Kundera
Diese Woche ist der berühmte tschechische Autor Milan Kundera mit 94 Jahren gestorben. Er lebte seit 1975 in Frankreich, wurde auch französischer Staatsbürger und schrieb einen Großteil seiner Bücher auf Französisch, obwohl die Handlungen meist in der Tschechoslowakei verortet sind.
Milan Kundera hatte die Fähigkeit, in das Labyrinth des menschlichen Unterbewusstseins einzutauchen. Bedauerlicherweise hat er nie einen Nobelpreis für Literatur erhalten, obwohl er ihn durchaus verdient hätte.
Sein berühmtester Roman ist mit Sicherheit „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Darin schreibt er: „Soll eine Liebe unvergesslich sein, müssen sich vom ersten Augenblick an Zufälle auf ihr niederlassen, wie die Vögel auf den Schultern von Franz von Assisi“.
Der Roman wurde übrigens meisterhaft verfilmt von Philip Kaufmann mit Juliette Binoche, Daniel Day-Lewis und Lena Olin.
Welche Blicke sind für Dich die wichtigsten? Brauchst Du den Blick des Publikums, oder brauchst Du eher den Blick Deines Geliebten? Oder bist Du etwa ein Träumer?
Manchmal leben wir übrigens auch unter den (vermeintlich) strengen Blicken bereits verstorbenen Menschen, wie zum Beispiel Eltern oder Großeltern.
Das erlebe ich häufig in meiner Arbeit, wenn es um epigenetische und transgenerationale Muster geht, wenn wir in ungesunden Beziehungen leben, wenn wir psychosomatische Erkrankungen haben, wenn wir perfektionistisch sind, wenn wir uns selbst nie genug sind: oft steckt dahinter der (vermeintlich) unerbittliche oder strenge Blick einer längst verstorbenen Person aus unserer Familie.
Es lohnt sich durchaus, da einmal hinzuschauen, um zu verstehen, wie wir uns von diesen Blicken lösen können, um mit einem wohlwollenden und liebevollen Blick auf uns selbst zu schauen.
Denn eine wichtige fünfte Kategorie hat Milan Kundera nicht erwähnt: der Blick auf uns selbst.
Der liebevolle, empathische, versöhnliche Blick auf uns selbst, der der uns weich macht, der uns ermöglicht, uns zu öffnen und in Beziehung zu gehen. Das ist der Blick der dann, wie Magie, die Blicke anderer auf uns lenkt, der unsere Anziehungskraft ausmacht.
Daraus entsteht unsere Verbundenheit mit allen anderen Menschen.
Ich wünsche Euch verträumte Blicke beim Lesen der wundervollen Werke Milan Kunderas und einen liebevollen Blick auf Euch selbst.